Anforderungen, Vorgaben, Missstände, Aufgaben

anpacken

2015 gegründet, 2016 online gegangen und 2019 bereits mehr als eine Million „aktive Nachbarn“. Die Plattform nebenan.de fördert den Nachbarschaftsdialog und geht ein soziales Kernthema an. Denn in einer sich dynamisch verändernden Welt wird das soziale Umfeld immer wichtiger. Ein Mitgründer gibt Einblicke.

Ein gutes Zuhause braucht Nachbarn, die man kennt

Michael Vollmann, Mitgründer von nebenan.de und Geschäftsführer der nebenan.de-Stiftung

Ziemlich beste Nachbarn Broschüre (Foto)
Michael Vollmann, Mitgründer von nebenan.de (Foto)

Was ist die Idee von nebenan.de? Wie sind Sie darauf gekommen?

Michael Vollmann: Die Idee ist im Grunde aus der Not geboren. Mein Bruder Christian und ich sowie einige der anderen vier Mitgründer von nebenan.de kommen überwiegend vom Dorf. Dort war unser Alltag geprägt von Gemeinschaftserfahrungen: Man kannte sich, traf sich im Verein und war ehrenamtlich engagiert. In der Stadt haben wir das vermisst. Dort herrscht viel Anonymität und ältere Menschen sind oft einsam. Die Menschen stellen sich einander nicht mehr vor, wenn sie einziehen. Man grüßt sich vielleicht noch; aber dabei bleibt es meist.

Das wollten wir für unsere Nachbarschaft ändern – zunächst mit einem E-Mail-Verteiler und dann schon bald mit einer spezialisierten lokalen Plattform. Die Resonanz war so positiv, dass wir diese für jeden Nachbarn in Deutschland zugänglich machen wollten.

Offenbar haben Sie mit Ihrer Idee den Nerv der Zeit getroffen …

Vollmann: So ist es. Heute bringt nebenan.de in ganz Deutschland interessierte Nachbarn auf der Online-Plattform zusammen. Die Menschen vernetzen sich in den Nachbarschaften, pflegen gemeinsame Interessen und gründen Stammtische. Viele finden über die Plattform Verlorenes wieder, tauschen nicht mehr Benötigtes oder organisieren Nachhilfe für die Kinder. Ein anderes Feld ist das Ehrenamt: Die Leute bieten sich als Einkaufshilfe für ältere Menschen an, beteiligen sich an Foodsharing-Konzepten und organisieren Sachspenden für Obdachlose oder Geflüchtete.

Inwiefern können auch Institutionen die Plattform nutzen?

Vollmann: nebenan.de steht allen offen, die aktiv in der Quartiersarbeit, Stadtentwicklung oder im nachbarschaftlichen Engagement tätig sind. Dazu gehören vor allem Vereine sowie gemeinnützige und kommunale Einrichtungen. Die Kriterien für uns sind, dass es einen lokalen Bezug gibt und die Nachbarschaft davon profitiert. Gerade Kommunen bietet die Plattform eine neue Art der Bürgerkommunikation: Sie können auf lokale Veranstaltungen hinweisen, Ehrenamtliche suchen und über Projekte im Viertel informieren. Die Stadt Hannover stellt den Nachbarn zum Beispiel ihr Angebot für die Begleitung von Senioren vor und das Bezirksamt Berlin-Lichtenberg informiert die Nachbarn über aktuelle Quartiersaktivitäten.

Michael Vollmann, Mitgründer von nebenan.de (Foto)
nebenan.de (Foto)

Auf www.nebenan.de haben sich bereits 7.000 Nachbarschaften gefunden; perspektivisch sollen es einmal 30.000 werden.

Gilt das auch für das Gewerbe?

Vollmann: Ja, aber ausschließlich für das jeweils lokale. Wir betrachten den örtlichen Einzelhandel und lokale Dienstleister als wichtige Akteure in der Nachbarschaft, die wir stärken wollen. Das Yoga-Studio, der Physiotherapeut und der Lebensmittelladen, der von einem Einzelunternehmer betrieben wird, sind wichtige Bausteine einer funktionierenden Nachbarschaft. Dabei bleibt allerdings der Rahmen begrenzt. Das heißt, dass niemand gezielte Werbung betreiben oder datengetriebene Geschäftsmodelle ausrollen kann.

Was macht Ihre Stiftung eigentlich?

Vollmann: Im Mittelpunkt steht grundsätzlich die soziale Idee. Dabei hilft auch die gemeinnützige nebenan.de-Stiftung. Über sie haben wir weitere starke Partner an unserer Seite wie das Bundesfamilienministerium, die Diakonie Deutschland und auch Vonovia. Gemeinsam mit diesen Partnern können wir beispielsweise den „Tag der Nachbarn“ oder die Verleihung des „Deutschen Nachbarschaftspreises“ organisieren. Der Preis wird auch von Vonovia maßgeblich unterstützt.

Was ist die Idee des Deutschen Nachbarschaftspreises?

Vollmann: Der Preis zeichnet seit 2017 Menschen aus, die sich in ihrer Nachbarschaft in besonderer Weise für das „Wir“ einsetzen. Aus allen eingehenden Bewerbungen nominiert die Stiftung etwa 100 Projekte. 16 Landesjurys und eine Bundesjury ermitteln dann unter den jeweils Nominierten die Sieger. Ziel ist es, dem Engagement in der Nachbarschaft ein Gesicht zu geben und es entsprechend zu honorieren.

Belebe dein Viertel (Foto)

Was sind Ihre Alltagsprobleme? Wie gehen Sie mit dem Datenschutz um?

Vollmann: In Deutschland wird Neues nur sehr langsam angenommen und es herrscht eine große Skepsis gegenüber Online-Themen. Eine unserer wichtigen Aufgaben besteht darin, diese Ängste abzubauen. Das Thema Datenschutz hatten wir von vornherein sehr genau im Blick. Wir fragen nur die Daten ab, die wir zum Betrieb der Plattform zwingend benötigen. Das sind im Wesentlichen die Anmeldeinformationen. Ein externer Datenschutzbeauftragter achtet darauf, dass das so bleibt. Über einen umfassenden Verifizierungsprozess stellen wir sicher, dass auch wirklich nur die Nachbarn in ihrem jeweiligen Umfeld miteinander kommunizieren können. Unsere technische Plattform haben wir TÜV-zertifizieren lassen.

Welches Bild haben Sie von den Menschen in Deutschland?

Vollmann: Wir sehen sehr viel Engagement. Die Deutschen sind schon sehr aktiv. Gleichzeitig erleben wir durch die Digitalisierung Fliehkräfte, die die Gesellschaft scheinbar noch weiter zerfasern lassen. Jüngere und ältere Menschen begegnen einander nicht mehr. Der Zivildienst ist abgeschafft. Die soziale Vermischung ist begrenzt. Das gefährdet am Ende den Zusammenhalt. Hier wollen wir gegensteuern.

Hat Sie etwas überrascht?

Vollmann: Wir erleben ein großes Interesse der Menschen an dem Thema Nachbarschaft. Die Begriffe Heimat und Zuhause gewinnen an Bedeutung. Man besinnt sich wieder zurück auf das Lokale. Ein gutes Zuhause braucht Nachbarn, die man kennt. Das ist ein Trend. Überrascht hat mich das große Engagement der Menschen, wenn es ums Anpacken geht. Auf magazin.nebenan.de zeigen wir tolle Geschichten von Menschen vor Ort, die sich für Geflüchtete einsetzen oder Hilfsbedürftige unterstützen. Auf unserer Plattform haben wir 3.500 registrierte lokale Initiativen, und dann gibt es ja noch die unzähligen einfach so vereinbarten Aktivitäten. Der Ideenreichtum und das Herzblut sind beeindruckend. Das motiviert uns sehr und bestätigt uns in unserer Aufgabe.

Wohin geht es mit nebenan.de? Was ist Ihre Vision für die Zukunft?

Vollmann: Die Plattform soll sich mittelfristig wirtschaftlich eigenständig tragen können. Und unsere Stiftung soll ihre Wirkung mit den Zielen Demokratieförderung, Förderung des sozialen Zusammenhalts und Integration weiter ausbauen.

Wir haben heute 1,1 Millionen aktive Nutzer in über 7.000 Nachbarschaften in mehr als 350 Gemeinden. Meine Vision ist, dass wir irgendwann allen 30.000 Nachbarschaften in Deutschland eine Plattform bieten. Ich wünsche mir, dass wir mit unserer Arbeit aus den vielen Fremden, die heute täglich nebeneinander her leben, wieder gute Nachbarn machen. Und somit Einsamkeit verringern und den gesellschaftlichen Zusammenhalt auf lokaler Ebene stärken. Nachbarschaften können in unserer dynamischen Welt ein Zuhause sein.